Hochspannung in (Tief-)Garagen

Ob die Elektromobilität in Deutschland flächendeckend zum Erfolg wird, entscheiden letztlich nicht nur Autohersteller oder Stromerzeuger, sondern speziell auch die Immobilienwirtschaft.

Kennen Sie das „Zahnarztallee-Problem“? Es hat weniger mit Karies oder Parodontose zu tun, es ist vielmehr die Wurzel der E-Mobilitätsskepsis in Deutschland. Kurz zusammengefasst verbirgt sich dahinter die Vorstellung, dass in einer einzelnen (fiktiven) Straße eines Wohnortes à la Hamburg Blankenese ein Dutzend Zahnärzt:innen ihren Privatwohnsitz haben. Alle Dentist:innen kommen nach Praxisschluss in ihren Teslas nach Hause gerollt und schließen das E-Fahrzeug sofort an den heimischen Supercharger an. Das entzieht dem Netz ruckartig so viel Saft, dass ungefähr zeitgleich im nahgelegenen, jedoch nicht ganz so mondänen Iserbrook die Lichter ausgehen. Was ist dran an diesem oft erzählten Szenario?

Die wichtigsten Ladestationen stehen zuhause

Der Erfolg von E-Mobilität hängt direkt mit der Verfügbarkeit von Ladeinfrastruktur (also Ladesäulen plus Strom) zusammen. Die allgemeine Diskussion bezieht sich aber meist auf öffentliche Ladesäulen. Klar, von denen gibt es aktuell viel zu wenig, sie sind schlecht vernetzt, in vielerlei Hinsicht kompliziert und dadurch oft nutzerfeindlich. Wer sich in einem E-Mobil auf eine Fernreise begibt, kriegt ein mulmiges Gefühl angesichts des Zwangs, ein paar hundert Kilometer nach dem Start eine Ladestation zu finden, die erstens nah an der Strecke und zweitens frei ist, die drittens funktioniert, viertens Kredit- oder Geldkarte akzeptiert und fünftens dem Wort „schnell“ gerecht wird.

 

Wenn sich allerdings die rein elektrische Mobilität stärker ausbreiten soll – und zwar über alle Einkommensklassen hinweg – dann müssen in sehr großer Zahl zuerst eher andere Ladestationen bereitstehen: nämlich solche am Wohngebäude oder am Arbeitsplatz, denn die werden mit Abstand am häufigsten genutzt. Diese stehen dann also nicht im Carport neben einer Vorstadtvilla oder auf einer Mall nahe der Autobahn. Sie finden sich in den Tiefgaragen von Mehrfamilienhäusern oder auf den Parkflächen unromantischer Gewerbeimmobilien.

Stecker dran, Strom aus?

Rechnet man sich das Ladegeschehen eines Mehrfamilienhauses (mit ca. 20 Einheiten) aus, dann kann das mit der Zahnarztallee mithalten: Derzeit zählen E-Herd und Kochplatten mit einer Anschlussleistungen zwischen 3 kW und 7 kW zu den „heftigsten“ Stromfressern im Haushalt. Wird also in allen 20 Wohneinheiten gleichzeitig gebacken (die Vorweihnachtszeit lässt grüßen), kann sich – zusätzlich zum „Grundrauschen“ im Stromverbrauch – ein Peak zwischen 60 und 140 kW bilden. Rollen ab 17 Uhr außerdem noch alle Berufstätigen rein elektrisch herbei und stöpseln ihr E-Fahrzeug an eine normale Wallbox, die sofort zwischen 11 und 22 kW Anschlussleistung abruft, ergäbe sich im Extremfall ein Peak von weiteren 440 kW. Ein Stromausfall wäre vorprogrammiert.

Mit Maximalbelastung rechnen

Solch eine Stromspitze mag aus unserer Sicht theoretisch sein. Sie ist es aber nicht für die Versorger. Die gehen bei ihrer Auslegung des Stromnetzes von den Extremfällen bei den Lastabrufen aus, um Ausfälle zu vermeiden. Dabei haben sie sich im Privatbereich bislang eher am Herd orientiert als am Elektroauto. Das Argument von der Zahnarztallee ist also nicht ganz aus der Luft gegriffen: Beim oben geschilderten Szenario müsste das Stromnetz verbessert werden, damit eine breite private Ladeinfrastruktur zur Verfügung steht. Zudem gilt: Nur mit Grünstrom ergibt E-Mobilität überhaupt erst Sinn.

Die Wallbox aufschlauen

Es gibt aber etwas, das die Sache deutlich abkürzt und beschleunigt. Denn Ladevorgänge lassen sich intelligent koordinieren. Die Stromer, die ab 17 Uhr in die Tiefgaragen rollen, sind ja in der Praxis nicht ganz leer oder haben mehr als zwölf Stunden Zeit für den Ladevorgang. Eine „dumme“ Wallbox weiß das nicht, sie startet mit dem Laden, wenn der Stecker steckt. Und da jede derartige Wallbox an den Stromzähler der jeweiligen Partei und (Stellplatz)-Nutzer:innen gekoppelt ist, weiß sie auch nichts von den anderen Ladern. Intelligente Systeme dagegen laufen über einen separaten Zähler und sind an einen vernetzten Rechner gekoppelt. Der kann wichtige Informationen abrufen, etwa die Kapazität und den aktuellen Zustand der Batterie im Auto sowie die Lade- und Nutzungshistorie der Fahrzeuge bis hin zur verfügbaren Netzlast. Anhand dieser Kriterien priorisiert das System dann die Ladevorgänge: Welches Fahrzeug braucht sofort ein paar Kilowattstunden, welches kann bis zum kommenden Morgen warten? Peaks würde das deutlich glätten, ein Ausbau des Stromnetzes wäre nicht zwingend notwendig oder zumindest günstiger.

Links: Das passiert, wenn alle E-Fahrzeuge in der Tiefgarage laden, sobald sie eingeparkt und angestöpselt sind. Rechts dagegen: Intelligentes Lastmanagement plant die Ladevorgänge so, dass diese die Netzkapazitäten nicht überfordern.

Die Hausverwaltung gibt den Ausschlag

Ein solches intelligentes Lastmanagement hat einen ähnlichen Effekt wie damals DSL beim Internet: Die Datenübertragungstechnik holte so ziemlich alles aus dem guten alten Kupferkabel heraus – und verschaffte dem Glasfaserausbau mehr Zeit. Das könnte uns beim Stromnetz auch gelingen. Erfahrungsberichte und Daten über Nutzerverhalten von E-Fahrzeugfahrern gibt es viele.

 

Woran hakt es also beim „Aufrüsten“ von Bestandsimmobilien? Wieso gibt es zwar einen E-Fahrzeug-Boom, aber nicht längst mehr Firmenparkplätze und Tiefgaragen mit intelligenten Ladekonzepten? Weil hier die Zuständigkeit wechselt: Nicht die Mobilitätsanbieter geben den Ausschlag, sondern die Immobilienwirtschaft. Und die fühlt sich entweder (noch) nicht zuständig oder macht sich langsam erst mit dem Thema vertraut. Es mag merkwürdig klingen, aber bei mir zumindest ist es so: Ob mein nächstes Fahrzeug rein batterieelektrisch angetrieben sein wird, hängt mehr von meiner Hausverwaltung ab als von den Hochglanzbroschüren der Hersteller, dem netten Lächeln des Autohändlers oder meinem grundsätzlichen Wunsch, möglichst emissionsarm unterwegs zu sein.

Autor

Andreas Neemann

Senior Berater Content & PR

E-mail: andreas.neemann@wortwerkstatt.de

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